Anguane

Mängelexemplar

Ich bin anstrengend. Das klingt erst mal ziemlich lässig. (…) Ich werde sehr schnell wütend, traurig, überdreht und laut. Auch das klingt zunächst sehr sympathisch: Ach, Karo ist einfach sehr emotional. In Zeiten, in denen Jugendliche sich, ohne mit der Wimper zu zucken, bei einer Cola Enthauptungsvideos im Internet ansehen, ist das doch toll, wenn jemand noch ordentlich fühlt! Aber ich kann versichern: Das ist anstrengend für mein Umfeld, und es ist vor allem anstrengend für mich. Gefühle sind Stress. (…). So bin ich. Anstrengend. Und ich kokettiere damit nicht. Denn jegliches bei mir ankommende Gefühl, ob positiv oder negativ, potenziert sich innerhalb kürzester Zeit zu einem Drama. In meinem Bauch bildet sich ein Feuerball und ich sehe rot. Kleinigkeiten machen mich irre, wegen einer Mücke werde ich zum Elefanten. (…)
Als mir mal, nach einer Dreiviertelstunde Suche, ein mir eindeutig zustehender Parkplatz von einer anderen Frau weggeschnappt wurde, bin ich zunächst ausgestiegen, um zu argumentieren, als ich damit aber scheiterte, habe ich aus Wut einfach angefangen, zu weinen, (…). Ich finde in solchen Momenten einfach kein Ende. (…) Normale Menschen zählen in diesem Moment wohl einfach bis zehn, aber ich komme erst gar nicht bis zur Zwei. Ich lege sofort los. Kickstart. Von null auf hundert! Wäre ich ein Sportwagen, die Brandenburger Dorfjugend würde sich um mich reißen. (…)

aus: Mängelexemplar/ Sarah Kuttner


8 Responses to “Mängelexemplar”

  • Donna Says:

    Anstrengend so ein Leben als Drama-Queen!

    Liebe Sonntagsgrüße - Donna

  • Quer Says:

    Und sie kokettiert eben doch damit…

    Den Ausdruck “Drama-Queen” von Donna finde ich - zumindest für diesen Textausschnitt - gut gewählt!

    Einen schönen, unangestrengten Sonntag wünsche ich euch beiden.

    Brigitte

  • Anguane Says:

    Anstrengend: ja! Drama-Queen als Bezeichnung für die Protagonistin, die in dieser Szene ein öffentliches “Drama” beschreibt: möglich. Dass sie im Buch tatsächlich damit kokettiert (und dieses mit geradezu paradoxer Aussage bestätigt): ja!
    Aber ich gebe zu bedenken, dass sich manch ein Drama lediglich auf einer inneren Bühne abspielen kann, die Öffentlichkeit davon völlig unbehelligt bleibt…
    Um das ganze mal etwas anschaulicher zu machen, folgendes Zitat:
    ” Wie die weiter oben bereits erwähnten Untersuchungen von Stiglmayr et al. (2005) zeigen konnten, erleben (…) die Patienten ihre Spannungszustände im Vergleich zu psychisch gesunden Kontrollprobandinnen subjektiv bis zu neunmal höher. Die Ergebnisse legen nahe, dass (..) die Patienten sich häufig in emotionalen Zuständen befinden, wie sie andere nur in lebensbedrohlichen Situationen erleben.”

    Nur mal so als Denkanstoß…

    LG in den Sonntag
    Anguane

  • syntaxia Says:

    Liebe Anguane,

    da kommt mir aber etwas sehr bekannt vor. Die Eigenwahrnehmung kann so völlig anders aussehen -ja.. *seufz

    Einen schönen Sonntag (vor dem Wiederbeginn?!)
    ..wünscht dir Monika

  • Anguane Says:

    Nicht nur, Monika. Die neurobiologischen Korrelate und auch die bildgebenden Untersuchungen zeigen sehr deutlich, dass es sich dabei um nachweisbar andere Prozesse handelt, die logischerweise auch subjektiv empfunden werden. Zu den biologischen Momenten kommen noch persönliche Verwundbarkeiten. Alles greift in alles, will Dich aber jetzt nicht mit dem Thema langweilen ;-)

    LG und Danke
    Anguane

  • Anguane Says:

    Noch ein Nachtrag (Zitat):

    (…)
    Offensichtlich nimmt Kuttner, und das muss man ihr hoch anrechnen, die Verschmelzung ihrer eigenen Biografien mit der ihrer Romanheldin für eine gute Sache in Kauf: nämlich um das Bewusstsein zu stärken, dass psychische Defekte Krankheiten sind, die man ernst nehmen muss und die man heilen kann. Denn eines hat sie erreicht nach der Lektüre des Buches: Man versteht besser, wie Depressive ticken. Und das ist wichtig in einer Zeit, in der skrupellose Renditegeier die Zukunftschancen junger Leute dezimieren. Viel schlimmer als ein leeres Bankkonto ist das, was in den Köpfen der Menschen angerichtet wird.

    Es ist also das richtige Buch zur richtigen Zeit. Vielleicht sollte Kuttner ein Forum im Internet eröffnen für verstörte Twens, die in Zeiten wachsenden Drucks die bösen Geister nicht mehr aus dem Kopf vertreiben können. Keine Kleinanzeigensendung mehr, sondern nach Größerem streben. Das tun, was sie am Besten kann: Moderieren. Und die Glaubwürdigkeit nutzen und als Sprachrohr den Kontakt zwischen Betroffenen und Helfern herstellen. Denn eines wird Sarah Kuttner in den nächsten Monaten so oder so sein: das Gesicht der Depression.

    Von Kathrin Buchner

  • syntaxia Says:

    Ja, liebe Anguane,
    davon weiß ich wohl auch. Die biochemischen Vorgänge sind andere. Lange habe ich ja gedacht, ich empfinde alles nur so, weil die “lebenssituative Komponente” hineinspielt. Heute weiß ich, dass es eine deutlich andere Qualität ist, wenn so ein endogener Schub kommt.
    Das kann ich körperlich auch differenzieren.
    Langweilen wirst du mich damit ganz sicher nicht, meine Liebe. Es ist und bleibt mein Lebensthema, um das ich nicht herum komme..

    ..grüßt dich Monika herzlich

  • Anguane Says:

    Nein, darum herum kommen wir nicht, aber damit leben lernen und das zuweilen sogar ganz gut, das können wir. Und das ist schon eine ganze Menge!

    In diesem Sinne einen lichten Abend
    Anguane

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